"Frucht I"; Farbstift, 140x105cm
Traumwolf und erotische Versöhnung
Künstler sind Handwerker, die seit der europäischen Renaissance zu genialen Visionären nobilitiert wurden. Die meisten allerdings würden sich eher zwischen diesen beiden Extremen wiederfinden- irgendwo zwischen Arbeit und Traum.
Das Arbeitsmittel des Künstlers kann alles sein, vom Silberstift bis zur Intervention in die Gesellschaft. Aber was ist das Arbeitsmittel der Träumer? Der tätige Tagtraum seiner Produktion- aber sicher auch ganz einfach das Bett. Dieses Arbeitsmittel vorzeigen, könnte zur Performance des öffentlichen Schlafens führen. Das ist auch schon geschehen. Aber Irmgard Gottschlich ist wohl die erste, die auch die Ergebnisse ihrer Traumarbeit in Form von Betten vorzeigt. Nicht als farbgetränkte Laken, sondern als ganze, bezogene und bezeichnete Bettgestelle. Die aber inszenieren keinen seltsamen Schlafsaal, sondern hängen wie große Tafelbilder an der Wand.
Es sind aber keine Bilder, die mit genauer Ausrichtung einen Illusionsraum öffnen, eine surrealistische Traumvision, die aussieht wie im Kino, ist hier nicht gewollt. Vielmehr zeigt Irmgard Gottschlich die Erinnerungen an eine andere Realität in teils vagen, teils drastischen, immer aber mehrfach überlagerten, gleichzeitig und gleichräumlich gemachten Skizzierungen. Denn diese erotisch aufgeladenen Bilder bringen aus der Schlafwelt nicht kristallin klare Alpträume mit, sondern sind rückertastete Traumprotokolle, oft in blauer Farbe gehaltene visuelle Notizen aus der blauen Stunde zwischen den Welten.
Diese umfangreichen bilderzählungen haben gemäß der Methode dieser Grenzüberschreitungen keine lineare Logik, so dass eine einfache Nacherzählung an ihrer besonderen Art vorbeiginge. Doch angesichts dieser Bildwelten nun in die Traumdeutung einzusteigen, ist auch nicht notwendig, das führe nur zu einer fragwürdig psychologisierenden Interpretation. Diese Bildbetten und Zeichnungen sind eben nicht privat, als Kunst ist ihr Horizont weiter gespannt. Er verallgemeinert die Erzählung erst zum Märchen, dann zum Mythos. Zwar ist es nicht die Aufgabe der Künstler, zu ihren Arbeiten auch noch den Schlüssel zu liefern. Einen Hinweis aber gibt Irmgard Gottschlich gerne. Seit 1998 interessiert sie das Märchen von Rotkäppchen und dabei besonders der Aspekt des Wolfes. So setzt Irmgard Gottschlich die Betrachter in Bezug zu weiten und tiefen Systemen, in denen die Grenzen von Mensch und Tier, von Tierischem und Göttlichem noch nicht so festgeschrieben waren, wie heute.
Wie bei allen von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten Volksmärchen verbergen sich auch hinter „ Rotkäppchen“ alte Ahnungen aus fernen Zeiten. Ist dort im Märchen nicht eigentlich ein Initiationsritual zum Frausein erinnert? Das Mädchen geht in den Wald und erfährt dort als Opposition zu der durch die Trias Großmutter, Mutter, Tochter bestimmten weiblichen Welt die bisher unbekannte männliche Seite der Naturmacht: Aggression und Tod, aber auch die Wiedergeburt durch das tätige Eingreifen des partnerschaftlichen Jägers als Kontrollorgan einer freundlicheren weil zivilisierten, gleichwohl männlichen Ordnungsmacht.
Im Märchen von Rotkäppchen ist der Wolf seltsam wenig wild. Statt seine Urkraft direkt zu nutzen, wendet er lieber verführerische Tricks an. Das passt zu der Ambivalenz, die das Wolfsbild durch die ganze Kulturgeschichte hat: Bei den Griechen ist er sowohl Ares wie Apoll heilig. Bei Irmgard Gottschlich taucht er oft zusammen mit dem weiblichen Körper in den Bildern auf. Hier scheint der Wolf zuerst einmal ein wildes männliches Gegentier zum Weiblichen zu sein. Wahrhaftig unbezwingbar wild ist er in der nordischen Mythologie. Der Wolf Fenrir begleitet mit seinem Geheule die Götterdämmerung. Schließlich verschlingt er zuerst Odin, dann das ganze All, seine Söhne Skol und Hati haben schon zuvor Sonne und Mond gefressen. Und bis heute wird der Wolf meist negativ als das mörderische Raubtier gesehen.
"Frucht III" (Detail); Farbstift, 140x105cm
Aber nicht überall in der Überlieferung ist das außerordentlich sozial lebende Tier nur todbringend und männlich konnotiert. In der römischen Kultur steht eine Wölfin hochgeachtet am Beginn der Gründungslegende von Rom, die „Lupa Capitolina“ säugte Romulus und Remus. „Lupa“(Wölfin) ist aber auch eines der Wörter, die eine Prostituierte bezeichnet und das Lupanar ist schlicht ein Bordell. Geht man noch weiter in die Antike zurück, begegnet man im Homerischen Götterhymnus dem Wolf in der Entaurage von Aphrodite:
„…ihr folgten / Wedelnd graue Wölfe und Löwen mit
Funkelnden Augen / Bären und schnelle Pardel, die unersättlich nach
Rehen / Gierig; und dieser Anblick erfreute die Sinne der Göttin, / Und sie erweckte in ihnen süße Begierde, dass alle / Paarweis sich zueinander in
Schattige Lager gesellten. „
Die Liebe mag das Wilde bändigen, aber letztlich sind Tod und Zeugung gleichermaßen Teil der göttlichen Natur. So ist auch die oftmals überrascht bemerkte Erotik in den Zeichnungen der Irmgard Gottschlich kein sexuelles Stimulans, sondern universales Prinzip, immer wiederkehrende Hoffnung auf Versöhnung und Kreation.
Aus der animistischen Sicht der Natur und der breiten Toleranz tausendfacher Vorstellungen des Göttlichen destilliert das mittelalterliche Abendland seine patriarchalische Religion. Das System des Christentums verteufelt den Wolf, es bleibt ihm gar nichts anders übrig: Wird Christus selbst als das „ Lamm Gottes“ bezeichnet, wird der Wolf ganz automatisch zum bösen Gegenspieler, schon durch die Erfahrung aller Hirten. Und doch wird auch unter den Päpsten die Geschichte der römischen Wölfin nicht vergessen. Kein Tier ist von Natur aus so böse, dass es nicht durch die Macht der Kirche gezügelt und befriedet werden könnte. So wie Kirchenvater Hieronymus einen lieb gewordenen Löwen bei sich hat, ist der Wolf ein Attribut des Franz von Assisi. Der Heilige, der mit den Tieren redete, hatte mit dem reißerischen Wolf von Gubbio per Handschlag einen Friedensvertrag ausgehandelt. Das ist eine schöne Anknüpfung für heute: Franz von Assisi könnte sehr gut der Heilige der Ökobewegung sein. Auch heute verbreiten die Medien gerne Geschichten von besonderen Beziehungen zu Wölfen: So ist es wohl mehr als nur ein PR-Gag, dass die zarte Pianistin Helene Grimaud sich zuhause in Amerika mit einem Wolfsrudel umgibt. Auch bei Irmgard Gottschlich, die für Gerechtigkeit gegenüber allem Lebenden eintritt, sind die allerdings nur in ihren Zeichnungen teils rudelhaft wimmelnden Wölfe wilde Vertreter von Naturkräften- aber sie sind nicht feindlich und schon gar nicht böse.
Warum soviel über den Wolf sinnieren? Vielleicht ist er ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig ein als böser Räuber verschrieenes Geschöpf im Gleichgewicht der Natur ist. Und auf der symbolischen Ebene ist es verblüffend, wie vielgestaltig die eigenen Anknüpfungspunkte
"Rot und Waldmeister"; Bleistift, Farbstift, 33x22cm, 2002
werden, wenn die Kunstverbraucher sich auf das komplizierte Geflecht der Assoziationen einlassen, das jenseits einer eindeutigen Interpretation sich weit in den mytischen Raum öffnet. Aber der Wolf ist in den Zeichnungen der Irmgard Gottschlich nicht das einzige Tier. Es gibt Geflügel und Fische oder Schlangen. Und es gibt Mischformen und Tarnungen, wie eine Kappe mit langen Ohren, quasi eine Krücke, mit der der Mensch versucht, sich dem Tier wieder anzunähern. Abner das Universum der Künstlerin schließt auch die Pflanzenwelt nicht aus und zeigt ebenfalls Maschinenteile und Gerätschaften der langen Mühe technischer, meist männlich definierter Weltaneignung.
In den Träumen der Nacht geht der Schläfer auf Jagd und sammelt das ganze Wissen der Menschheit. Auf dem ausnahmsweise roten, blutig- lebenskräftigen Bett ist ein sehr fernes Fundstück gestrandet: Eine Sonnenbarke aus dem alten Ägypten. Es ist das Gefährt, mit dem die Sonne, nachdem sie im Westen untergegangen ist, in der Nacht zum Wiederaufgang in den Osten zurückgebracht wurde. Diese Vorstellung war zudem ein Topos für den Lebenszyklus im Ganzen. Im Lichte solch ägyptischer Vorstellungen mögen manche der wolfsählichen Tiere bei Irmgard Gottschlich vielleicht auch aus jenem Reich stammen, doch eher halb Hund und halb Schakal. Schakale lebten in der westlichen Wüste, dem realen Äquivalent des ägyptischen Totenreiches. Ihre Gestalt hat Anubis, einer der älteren ägyptischen Götter, der später als Totengott in das religiöse System um Isis und Osiris eingebunden wurde. Er ist der Wächter der Mumifizierung, der auch die sterblichen Überreste des Osiris, seines eigenen Vaters einbalsamiert hat. Aber wichtiger ist, dass Anubis beim Totengericht das Wiegen der Herzen überwachr- sie müssen schuldenfrei sein und leichter als eine Feder. Welch großartiges Symbol, welch anrührende Mahnung.
Irmgard Gottschlich stellt ihre Kunst in Bezüge, die älter und größer sind als sie selbst, die aber zugleich in ihr sind, durch sie hindurchgehen, sich durch sie ausdrücken. Sich daran heranzutasten ist ihre Arbeit. Ihre Methode ist die Zeichnung mit den Farbstiften. Ihr Vertrauen gilt eher der mehrdeutigen Linie als der scheinklaren Fläche. Aus verschiedenen Quellen entsteht so eine zeitlose mythische Gleichwertigkeit, ein persönliches unhierarchisches Bildsystem voller Überschreitungen und Entgrenzungen in Zeit und Raum. Es verweist auf gelebtes Gefühl und ist zugleich erinnernde Ratio. Es lässt weder zu, die Geschlechter auf alleinige Rollen festzulegen, noch fürchtet es sich vor speziell männlich oder weiblich besetzten Symbolen. Dabei unterwirft sich die Künstlerin keiner Ideologie – der Verweis auf die matrizentrischen Gesellschaften der Frühzeit ist bei Irmgard Gottschlich nicht auf wissenschaftliche Richtigkeit angelegt. Denn das Gewesene kann nur ein Gleichnis sein – entscheidend sind die Energien, die das Heute bestimmen.
Und da ist es gewiss nicht verkehrt, einen Abglanz eines – vielleicht auch historisch nie verwirklichten – Einklanges von Mensch und Natur zu beschwören. Als Mahnung und zur Freude zwischen Arbeit und Traum.
2005 Hajo Schiff
"Rotkäppchens Jäger", Bleistift, Farbstift, Papier, 33x23cm, 2002
"Frucht III"; Farbstift, 140x105cm
"Frucht II"; Farbstift, 140x105cm
"Zoras Wolfsbande"; Bleistift, papier, 90x70cm
"Wolfsspiel"; Bleistift, Papier, 90x70cm, 2002